Eintauchen in das Gehirn eines Ultra-Läufers

Man glaubt oft, dass ein Ultra mit den Beinen gelaufen wird. Doch die Wahrheit beginnt in unserem Gehirn. In dieser unsichtbaren Zone, lange vor dem ersten Schritt, entscheidet sich die Grenze zwischen Aufgeben und Durchhalten. In der House of Ultra erinnerte uns Chloë Lanthier – Athletin, Autorin und Expertin für Neurowissenschaften – an diese Tatsache: Ein Ultra wird nicht gegen den Berg gewonnen, sondern mit ihm, indem man lernt, seinen eigenen Geist zu zähmen.

Der Moment kommt immer: Die Muskeln brennen, die Gelenke protestieren, jeder Atemzug wird zur Anstrengung. Doch dann erhebt sich eine andere Stimme, stur und hartnäckig: der Geist, der sich weigert zuzuhören. Genau hier beginnt die eigentliche Arbeit – der innere Dialog, der für extreme Ausdauer typisch ist.

Alles beginnt im Gehirn

„Man kann das Mentale nicht vom Physischen trennen, denn alles beginnt im Gehirn“, erklärte Chloë. Diese Worte klingen wie eine einfache, aber grundlegende Wahrheit. Ultra ist nicht die Summe aus Körper und Kopf: Es ist ein System, in dem jedes Element das andere beeinflusst.

Vertrauen lässt sich nicht einfach beschließen. Es entsteht nicht auf dem Sofa, wenn man von Heldentaten träumt. Es wird in den wiederholten Kilometern geboren, in den frostigen Morgen, an denen man trotz Regen hinausgeht, in den endlosen Anstiegen, bei denen jeder Schritt einen Willensakt erfordert. Das Training schmiedet eine Gewissheit: „Ich habe das schon geschafft, ich kann es wieder schaffen.“ Wie Chloë sagt: „Vertrauen ist nichts Abstraktes. Im Training bauen wir Vertrauen auf.“

In der House of Ultra wurden ihre Worte greifbar. Die geteilten Strategien waren mehr als technische Tipps: Sie waren Einladungen zum Üben, zum gemeinsamen Ausprobieren, zur Kultivierung eines mentalen Zustands, der wie eine Technik gelernt wird – durch Wiederholung und Weitergabe.

Plastizität als Geheimwaffe

Das Gehirn ist formbar. „Je öfter man etwas wiederholt, desto stärker verändert sich das Gehirn“, erinnerte Chloë. Diese Plastizität verändert nach und nach unseren Umgang mit Belastung. Jeder schwierige Lauf schlägt neue neuronale Verbindungen ein – wie ein Pfad, der sich durch wiederholtes Begehen festigt.

Ein Training unter extremen Bedingungen – bei eisiger Kälte, drückender Hitze, luftdünner Höhe – bereitet weit mehr als nur den Körper vor. Es gewöhnt das Gehirn daran, im Unkomfortablen zu funktionieren. Was zuvor unüberwindbar schien, wird machbar, weil man es schon erlebt hat.

Und der Stress? Anstatt ihn zu meiden, wird er zur Kraftquelle. „Im Rennen kann er uns antreiben“, erklärte Chloë. Wir haben es alle gespürt: diesen Energieschub, der uns weiterträgt als gedacht. Doch man muss lernen, den Stress zu erkennen, der beflügelt, und den, der überwältigt. Dieses Unterscheidungsvermögen wird durch Wiederholung und die Kraft einer Gemeinschaft geschult.

Leidenschaft als nachhaltiges Fundament

Jenseits aller Strategien teilte Chloë ihre tiefste Überzeugung: „Das Wichtigste ist, Leidenschaft zu haben und zu lieben, was man tut.“ Ohne das fällt alles auseinander. Denn ein Ultra ist keine Eintagsfliege, sondern eine Langzeitbeziehung mit der Belastung.

Leidenschaft verändert die Wahrnehmung. Schmerz wird zur Information, Unbehagen zum Experimentierfeld, der Berg zum Partner statt zum Gegner. Sie gibt den Opfern einen Sinn: die Wecker um 5 Uhr, die Wochenenden auf den Trails, die abgestimmten Mahlzeiten.

Chloë offenbarte ihre größte Angst: sich zu verletzen und nicht mehr weitermachen zu können. Dahinter steht eine universelle Wahrheit: Was zählt, ist nicht die Medaille oder die Leistung, sondern die Möglichkeit, lange dabei zu sein, diese Leidenschaft ein Leben lang zu leben. Dieser Ansatz verändert alles. Statt das Training zu ertragen, genießt man es. Statt die verbleibenden Kilometer zu zählen, schätzt man den Moment. Chloë berichtet von ihren Ausflügen in die Berge, wie andere von ihrem Urlaub – mit leuchtenden Augen.

Laufen, immer und immer wieder

Chloës Worte erinnerten uns an das, was die Erfahrung bestätigt: Ultra ist eine Schule der Geduld, der Plastizität und der Leidenschaft. Der Kopf ist kein Zusatz, sondern der Antrieb unserer gesamten Praxis. Durchhalten heißt nicht, die Zähne zusammenzubeißen, sondern lernen, die Schwierigkeit in Treibstoff zu verwandeln.

Mit jedem Lauf, mit jedem Rennen schreiben wir unser Verhältnis zur Ausdauer neu. Und gerade im Teilen dieser Erfahrungen lernen wir wirklich, über uns hinauszuwachsen.

 

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